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Mein Endspurt als Inselsammler

Einzigartig ist schon der Sinkflug nach Athen just an dem Septembermittwoch, als große Teile Thessaliens in Regen und Schlamm versinken. Der Regen trommelt auf die Flugzeughaut, als würden wir in einer Blechtonne duschen. Wieder einmal staunen wir, was die Flugmaschinen alles aushalten können – im Gegensatz zum Reisegepäck. Unsere Koffer mussten in Athen für den Anschlussflug nach Korfu unter freiem Dunkelwolkenhimmel umgeladen werden. Als wir sie im Hotel am Alten Hafen von Kerkyra öffnen, sind alle Papiere darin aufgeweicht, die Kleidung reif für den Trockner.

 

 

Wir hingegen sind reif fürs Abendessen und gehen gleich in unser nahes Stammlokal mit dem schönen Namen >Ektos skedio – ohne Plan<. Hier bekommt der Gast zur Speisekarte einen Block, auf dem er notiert, was er ordern möchte. Wer nicht für einen Ausländer, sondern nur für einen Auslandsgriechen gehalten werden will, füllt den Bestellzettel auf Griechisch aus. Wenn der Kellner dann bis zum Bezahlen kein Wort Englisch mit mir spricht, sondern vielleicht sogar noch fragt, von wo in Griechenland meine Vorfahren stammen, hat’s geklappt. Als unterstützende Maßnahme bestellt man am besten auch noch Chorta statt Choriatiki und Chtapodi statt Souvlaki…

 

Zurück im Zimmer des in die Jahre gekommenen Hotels Konstantinoupolis mit dem abenteuerlichsten Fahrstuhl der griechischen Inselwelt stellen wir keinen Wecker. Den braucht man hier nicht, wenn man mit Blick auf den Hafen und Berge des Epirus und Albaniens logiert. Nur 200 m entfernt liegt direkt unterhalb des Neuen Forts die Marinekommandantur. Und da wird jeden Morgen aufs Neue um Punkt 8 Uhr die griechische Flagge zu den lautstarken Klängen der griechischen Nationalhymne vom Band gehisst.

 

Auf nach Lefkada

 

Nach einem Recherchetag für die Aktualisierung meiner diversen Korfu-Reiseführer brauchen wir am Freitagmorgen dann doch den Wecker. Die kleine Personenfähre >Lefkada Palace<, die dreimal wöchentlich Korfu mit den anderen größeren Ionischen Inseln bis hinunter nach Zakinthos verbindet, fährt schon morgens um 6:30 Uhr ab. Nach Zwischenstopps auf Paxos, Lefkada, Meganisi, Ithaki und Kefalonia ist sie dann um 18 Uhr an ihrem Ziel. Wir laufen gegen Mittag zusammen mit Dutzenden von Segel- und Motoryachten in den Kanal von Lefkada ein, wo sich immer zur vollen Stunde die Schiffsbrücke öffnet, die Lefkas zu einer der beiden griechischen Inseln macht, die auch ohne Fähre erreichbar sind. Vom Anleger bis in unser vorgebuchtes Hotel sind es dann nur drei Minuten Fußweg. Wir haben es ausgewählt, weil es als einziges in der Stadt über einen Pool verfügt und ich meiner Frau als Ausgleich für unser umfangreiches Programm versprochen habe, dass sie täglich wird schwimmen können. Doch seit gestern Abend leidet sie unter einer Blasenentzündung und nimmt Antibiotika ein – da ist Baden tabu. Statt am Schwimmbecken zu liegen, bummeln wir also durch die Inselhauptstadt mit ihren vielen Kirchen aus venezianischer Zeit und ihren ganz unspektakulären und gerade deswegen anheimelnden, oft leicht gekrümmten oder verwinkelten Gassen. Irgendwie scheint hier die Zeit in den späten 1950er Jahren stehen geblieben zu sein – ebenso wie die behelfsmäßigen eisernen Glockentürme der Kirchen, die nach dem schweren Erdbeben von 1953 schnell aufgerichtet wurden. Auch die meisten Häuser sind noch mit farbig gestrichenen Holz- oder Wellblechfassaden verkleidet, die das beim Erdbeben brüchig gewordene Mauerwerk verdecken.

 

Zum Abendessen folgen wir dann einem neuen griechischen Trend und gehen ins Restaurant >Mondo di Mare<, das zugleich Fischmarkt ist. Hier gibt es zwar eine Speisekarte, man kann aber auch direkt am Marktstand auswählen, welche Fische und Meeresfrüchte man zubereitet haben möchte. Man zahlt dann den normalen Marktpreis und einen kleinen Aufschlag fürs Grillen, Braten oder Kochen. Bisher kannten wir dieses Konzept nur aus Rhodos.

 

Auf zu den Inseln 84 und 85 – Kastos und Kalamos

 

Am nächsten Morgen ist es dann endlich soweit: Die Inselchen Kastos und Kalamos stehen auf unserem Programm. Wir nehmen uns ein Taxi zum Hafenort Nydri und statten dort zunächst Herrn Aristoteles Onassis einen Kurzbesuch ab. Er steht als Denkmal auf dem Kai, denn als Besitzer der vorgelagerten Insel Skorpios hat er Nydri vor allem durch eine illustre Besucherschar und seine Beziehungen zur Operndiva Maria Callas und zur Präsidentenwitwe Jackie Kennedy weltbekannt gemacht. Ein paar Meter weiter liegt das kleine Ausflugsschiff >Christina<, das im Sommerhalbjahr täglich zu einer Mini-Kreuzfahrt zu den „Vergessenen Inseln“ startet. 

 

Die Teilnahme an dieser Mini Cruise war eigentlich eine Art Kapitulation. Wir hatten versucht, von zu Hause aus den Fahrplan der Personenfähre vom Festlandsort Mytikas nach Kastos und Kalamos zu finden. Das war uns nur annähern gelungen: Ein Hotelier in Mytikas schickte uns den Fahrplan vom vergangenen Jahr, auf einer Webseite fanden wir den Fahrplan von 2019. Außerdem waren keinerlei Unterkünfte auf den Inseln in den großen Hotelportalen zu finden. Als wir dann anderweitig zumindest eine Telefonnummer fanden und dort anriefen, lachte man uns aus: Die wenigen Zimmern auf den beiden Inseln seien fast immer lange im Voraus ausgebucht. Und nur für einen Nacht gebe wohl kein Vermieter eine Herberge ab. Deswegen hatten wir uns dazu durchgerungen, an dieser Tagestour teilzunehmen, für die es sogar e-Tickets im Internet gab.

 

Pünktlich um 9 Uhr wirft Stelios, der Captain der >Christina<, den Motor an und wir legen ab. Seine britische Frau Jane ist die Cruise Managerin, die auch für Erklärungen übers Bordmikrofon zuständig ist. Drei junge Frauen sorgen für einen perfekten Getränke- und Snack-Service, teilen auf Wunsch Schwimmhilfen aus und halten das Boot tadellos sauber. Vorbei an der Privatinsel Atokos, auf der demnächst ein Luxushotel entstehen soll, geht es zunächst zur Meeresgrotte Papanikola an der Küste der Insel Meganissi, der größten der vielen Mini-Inseln zwischen Ithaka, Lefkas und dem Festland. In dieser Höhle versteckte sich im Dezember 1940 eins der sechs griechischen U-Boote, wurde von den Insulanern mit allem Nötigen versorgt. Der Turm des Boots steht heute vor dem Nationalen Nautischen Museum in Piräus.

 

Nach einem Badestopp vor der unbewohnten Insel Ferikoula, in deren Meeresgrotten noch einige der selten gewordenen Mönchsrobben leben sollen, erreichen wir am späten Vormittag Kastos, meine Insel Nr. 84. Im einzigen Dorf leben im Winter gerade noch 34 Menschen, vor 60 Jahren waren es noch 600. Außerhalb der Sommersaison gibt es dort keinen einzigen Lebensmittelladen und kein einziges Kafenio. Kastos hat keine Schule mehr, keinen Priester, keinen Polizisten und keine Müllkippe, in diesem Sommer fand sich nicht einmal ein Landarzt für das Eiland. Dabei ist hier zwischen Mai und September vor allem abends durchaus etwas los: Im Hafen und vor der Küste liegen dann meist bis zu 200 Yachten, deren Crews abends in den Ort zum Essen strömen. Deswegen sind dann durchaus mehrere Tavernen geöffnet.

 

Nach einem Rundgang durch den winzigen Ort sitzen wir in einem Café am Hafen. Da kommt gerade ein seltsames Kaiki mit eigenartigen Aufbauten an, das sich als reguläres Fährboot zwischen der Stadt Lefkada, Kastos und Kalamos entpuppt. Es verkehrt ganzjährig dreimal wöchentlich, ist aber in keinem Fährportal aufgeführt. Seinen Fahrplan erfährt man nur von der Hafenbehörde in Lefkada. Es hat vor allem Fracht, aber auch einige griechische Passagiere an Bord. 

 

Landgang auf Kalamos

 

Wir gehen wieder an Bord der sehr viel komfortableren >Christina<. Sie tuckert an einigen schönen kleinen Strandbuchten vorbei und führt dann auf Kalamos zu, das über 100 m hoch aus dem Ionischen Meer aussteigt. Hier leben in drei Dörfern noch etwa 380 Menschen. Die Insel ist dicht bewaldet, die endemischen Kiefern reichen oft bis ans Meer hinunter und säumen zwar steinige, aber sehr idyllische kleine Strände. Wir legen zu meinem Entsetzen auf Kalamos nicht an, sondern werfen in einer der schönsten Inselbuchten Anker. Wie soll ich als schlechter Schwimmer da ans Ziel meiner Träume kommen, meinen Fuß auf kalamischen Boden setzen? Der Captain hat die richtige Idee: Er legt mir eine Schwimmweste an und fordert mich auf, ans Ufer zu schwimmen. Fünf Minuten später sitze ich an einem Strand auf Kalamos: Insel Nr. 85 ist damit gerade so geschafft!

 

Auf der Rückfahrt von Kalamos nach Lefkada umrundet Kapetanios Stelios mit seinem Ausflugsboot >Christina< auch noch die Privatinsel Skorpios, die einst Aristoteles Onassis gehörte. 2013 hat sie der russische Milliardär Dmitri Rybollowlew gepachtet. Die Russland-Sanktionen greifen bei diesem Oligarchen nicht: Er besitzt einen griechischen Pass. Er badet und feiert hier noch, lässt sich und die Insel von zahlreichen schwer bewaffneten Sicherheitskräften bewachen. Er schläft aber nicht mehr hier, sondern aus Angst vor Kriminellen auf seiner 111 m langen Luxusyacht, die am Kai von Skorpios liegt. Mit der Insel hat er Phantastisches vor: Sie soll zum absoluten Luxus-Resort werden. Käptn Stelios meint, eine Woche Urlaub hier werde soll wohl eine Million Dollar kosten. 2024 soll es erst einmal mit etwa 50 Gästen/Woche losgehen. Später wollen die Russen auch noch die private Nachbarinsel Skorpidi für ihr Luxusresort erwerben, die noch der Reederfamilie Livianos gehört. Auf dem nahen Meganissi hat die Familie Rothschild viel Land erworben, auf dem bereits einige Luxusvillen für Superreiche entstanden sind – und auch das Inselchen Atokos, an dem wir auf unserem Weg von Lefkas nach Kastos vorbeikamen, soll ja ein Tummelplatz der Milliardäre werden. Ob einer von ihnen auch Homer und seine Odyssee im Edelkoffer haben und sie im Angesicht von Ithaka lesen wird?

 

Von Lefkada nach Kavala

Unser Ding ist Luxus nicht. So sitzen wir bei Sonnenaufgang im Taxi von Lefkada zum Busbahnhof von Preveza. Die Inselberge und Festlandsgebirge wirken in diesem frühen Morgenlicht wie Scherenschnitte. Am neuen Busbahnhof, der leider wie so oft nicht mehr im Stadtzentrum, sondern am Stadtrand liegt, bekommen wir endlich unseren langersehnten Kaffee und Snacks für die Reise, tauschen unser e-Ticket wie überall nötig gegen ein physisches Ticket ein. Pünktlich um 9 Uhr fährt der Bus los – ein älteres Modell, in dem es statt Stecker fürs Ladekabel noch Aschenbecher gibt. 

 

Es wird eine Fahrt voller Erinnerungen und Assoziationen. 50 Jahre lang kreuz und quer durch Griechenland gereist zu sein hat seine Spuren in Herz und Hirn hinterlassen. Wir kommen an Nikopolis mit seinen bestens erhaltenen Stadtmauern und seinem großen Theater vorbei. Octavian, der spätere Kaiser Augustus, hat diese Stadt im Jahr 31 v. Chr. zur Erinnerung an seinen Sieg über Marc Anton und Kleopatra in der Seeschlacht von Actium gegründet. Ihm werden wir am Ziel unserer heutigen Fahrt in Kavala wieder begegnen: Da hatte er elf Jahre zuvor in der Schlacht von Philippi noch zusammen mit Marc Anton die Heere der Cäsar-Mörder Brutus und Cassius besiegt und damit die Grundlage für seinen späteren Aufstieg zum ersten römischen Kaiser gelegt.

 

Aus dem Bus heraus sehen wir sehr viel weiter in die Landschaft des Amvrakischen Golfs, der sich über 50 km lang in den Festlandskörper eingeschnitten hat, als aus einem viel tiefer gelegenen Maserati oder VW Polo heraus. Pelikane, Flamingos und Delfine sehen wir allerdings anders als vor Jahrzehnten, als wir mit dem Boot die amvrakischen Ufer erkundeten, nicht.  Am inneren Ende des Golfs nahe Arta strebt der Bus dann nicht der Autobahn entgegen, die Patras mit Ioannina und Igoumenitsa verbindet, sondern fährt auf altmodische Art über die Dörfer im grünen Louros-Tal weiter. Bei Vouliasta mit seiner Forellenzuchtstation kommt das Tomaros-Massiv in Sicht. Auf seiner Rückseite wissen wir das antike Zeusheiligtum von Dodoni, wo wir einmal Mikis Theodorakis bei einem Live-Konzert im antiken Theater erleben durften. Bei Ioannina erreichen wir dann die Autobahn Odos Egnatia und steuern auf einer der schönsten Autobahnstrecken Europas unserem Zwischenziel Thessaloniki entgegen. Eine Rast legt der Busfahrer nahe der griechischen Pilzhauptstadt Grevena ein. Auch andere Orte entlang der Strecke wissen wir mit regionaltypischen Produkten zu verbinden: Siatista ist eins der Kürschnerzentren des Landes, aus Kozani stammt der griechische Safran, um Veria werden die besten Kirschen geerntet. Und beim Anblick der riesigen Braunkohlekraftwerke von Ptolemaida fällt mir die Begegnung mit einem griechischen Lehrer ein: Für ein deutsch-griechisches Jugendprojekt sollten seine Schüler aufschreiben, was sie an ihrer hässlichen Kohlenmetropole schön fänden. Die Antwort der meisten: Dass mein Vater hier eine gute Arbeit hat und dass es uns hier gut geht.

 

Nach gut fünf Stunden Fahrt ist Thessaloniki erreicht. Um 16 Uhr geht es weiter nach Kavala. Das Aufregendste an der Tour ist der Fahrer: Er dreht sich während der Fahrt ständig Zigaretten und raucht sie am offenen Fenster. Zeus sei Dank telefoniert er aber nur selten mit seinem Smartphone. Für einen Großteil der Strecke nutzen wir nicht die Odos Egnatia, sondern fahren auf schmaleren Straßen direkt an der Küste entlang. Wir staunen über die Vielzahl der guten Strände, die in Deutschland noch nahezu unbekannt sind. In Kavala gehen wir vom Busbahnhof nur fünf Minuten zu unserem Hotel direkt am Hafen, in dem noch viele große professionelle Fischerboote liegen. Vom Balkon aus blicken wir übers Meer hinüber zur Insel Thassos; in der Ferne ist sogar der heilige Berg Athos zu sehen. Zum Abendessen gehe ich allein – meine Frau legt sich hin und wird das Bett die nächsten fünf Tage nur zu sehr häufigen Toilettengängen und einer Krankenwagenfahrt zum staatlichen Hospital verlassen.

 

Zwischen Krankenhaus und Mini-Alhambra

 

Mir bleibt also – ungeplant - Zeit genug, die reizvolle, sehr entspannt wirkende Stadt, ihre Sehenswürdigkeiten, Kafenia und Tavernen zu erkunden. Für eine Führung im Imaret bin ich angemeldet. Der 1769 in Kavala geborene Mehmet Ali, später Vizekönig von Ägypten und Begründer der letzten ägyptischen Königsdynastie, dessen letzter Vertreter Faruk 1952 durch Gamal Abdel Nasser gestürzt wurde, hat diesen Gebäudekomplex seiner Heimatstadt errichten lassen. Mit seinen vielen Kuppeln und stillen Innenhöfen, in denen Brunnen sanft plätschern, ist heute als Miniaturausgabe der andalusischen Alhambra ein sehr teures Luxushotel mit Zimmerpreisen ab etwa 600 Euro pro Nacht. Eine knapp einstündige Führung (auf Englisch) bietet die einzige Chance, zumindest einen kleinen Eindruck von ihrer Schönheit zu erhaschen. Unangemeldet kann man auch das Tabakmuseum besuchen und einen Blick auf die alten Tabakfabriken und die verspielten Villen der Tabakbarone aus dem frühen 20. Jh. werfen. Eindrucksvoll sind auch das osmanische Aquädukt, die spätbyzantinisch-osmanische Burg und ein modernes Mosaik. Es erinnert daran, dass hier der Apostel Paulus erstmals europäischen Boden betrat.

 

Neben dem Sightseeing muss ich mich natürlich auch um meine kranke Frau kümmern und sie vor allem täglich mit frisch gekochter Hühnersuppe versorgen. Die gibt es gleich in mehreren kleinen Tavernen am Busbahnhof. Eine von ihnen serviert auch den ganzen Tag über Patsa, die griechische Kuttelsuppe. Die Pansen werden hier stets frisch für jeden Gast geschnitten. Kein Mittagsgericht ist hier teurer als 7,50 Euro – das Preisniveau in Kavala liegt deutlich unter dem der Metropolen und Touristenhochburgen.

 

Ganz kurz auf Agios Efstratios

 

Als meine Frau sich zur Weiterreise fit genug fühlt, steigen wir nachmittags auf eine große Autofähre. Eigentlich hatten wir vor, zwei Tage auf Limnos und eine Nacht auf meiner Insel Nr. 86 zu bleiben. Das geht nun nicht mehr. Also fahren wir die ganze Nacht durch und ich kann beim kurzen Zwischenstopp auf Agios Efstratios nur für eine Minute an Land gehen. Die einzige Inseltaverne hat auch jetzt kurz vor Mitternacht noch geöffnet, doch hin kann ich nicht. Immerhin:  Mir fehlt jetzt nur noch eine griechische Insel, die ich bisher nie betreten habe. Darum fahren wir von Lavrion zum Athener Flughafen und besteigen da eine Maschine ins kretische Chania. Dumm gelaufen, aber trotzdem schön… 

 

Die Bar an Bord der Fähre von Kavala über Limnos und Agios Efstratios ist auch zwischen Mitternacht und sieben Uhr morgens geöffnet, der Barmann in dieser Zeit allerdings manchmal schwer zu finden. Aber zumindest ein Ouzo ist jetzt fällig, um aufs Betreten von Insel Nr. 86 anzustoßen. Meine nicht ganz gesunde Frau liegt in der Kabine, eine junge Griechin lässt sich auf ein Gläschen an der Bar einladen. Sie studiert auf Limnos im einzigen dort angesiedelten Fachbereich der Universität der Ägäis Ernährungswissenschaften. Gute Sache, denke ich, dass griechische Universitäten oft auf so viele Standorte aufgeteilt sind. Für diese Universität sind das noch Lesbos, Chios, Samos, Rhodos und Syros. Mir fällt ein, dass wir auch schon im ersten Drittel dieser Reise Wegweiser zu Nebenstandorten anderer Unis gesehen haben: Auf Lefkada einen der Ionischen Universität von Korfu, in Preveza einen der Universität von Ioannina.

 

Beim Frühkaffee lerne ich dann noch zwei in Camouflage gekleidete Männer kennen: Sie waren wie jedes Jahr für ein paar Tage auf Agios Efstratios gewesen, um dort zu jagen. Zum Thema fällt mir die Insel Tilos ein, die als erste griechische Insel überhaupt schon vor über einem Jahrzehnt die Jagd völlig verboten hat – und dann denke ich an eine griechische Freundin auf Naxos, deren Mann leidenschaftlicher Jäger ist. Sie hat zu Hause drei Kühltruhen stehen, weil kaum jemand die vielen Wachteln und Rebhühner essen mag, die ihr Gatte nach Hause bringt.

 

Ruhe kehrt ein

 

Es ist wieder einmal Freitag. Um 7 Uhr morgens legt unsere Blue Star in Lavrio an der Spitze der attischen Halbinsel an. Wir nehmen für 50 Euro ein Taxi und lassen uns zum Flughafen fahren, um dort fünf Stunden lang in der Lounge von Sky Express auf unseren Flug nach Chania zu warten.  Zeit genug, den Rest der Reise zu besprechen. Meine Frau hat ihre Harnwegs- und ihre Darminfektion inzwischen zwar überstanden, fühlt sich aber noch recht schwach. Also ändern wir unsere Pläne. Auf einen Besuch von Gavdos, Europas südlichster Insel, werden wir verzichten, weil es dort kein Krankenhaus gibt. Stattdessen wollen wir eine  Woche lang in Almyrida nahe Chania bleiben. Wenn sie nicht schnell wieder fitter wird, werden wir am Montag vorzeitig mit Ryan Air für einen Spottpreis zurück nach Bremen fliegen. Geht es ihr doch wieder besser, werden wir am Mittwoch von Kissamos aus einen Tagesausflug mit der Fähre nach Antikythira unternehmen. Erst einmal ist also wieder relative Ruhe angesagt, wie krankheitsbedingt schon in Kavala.

 

Einen kleinen Mietwagen besorgen wir uns dennoch für fünf Tage. Kleine Spritztouren auf der Apokoronas-Halbinsel sind angesagt, zu deren wenigen Badeorten auch Almyrida zählt. In dieser hügeligen, überwiegend grünen und sanft hügeligen Region haben besonders viele Ausländer moderne Villen gebaut – überwiegend Briten in der Zeit, als sie ihre Häuser in England zu Höchstpreisen verkaufen und sich damit den Traum vom Wohneigentum in Hellas leicht leisten konnten. Dadurch ist wieder Leben in die vielen kleinen Dörfer von Apokoronos eingekehrt. Besonders schön ist Gavalochori mit seinen alten Gassen und einem exzellenten Volkskundlichen Museum. Da führt uns ein britischer Rentner herum. Besonders beeindruckt sind wir von den Stickereien mit Seidenraupenkokons und von den alten Holzschnitzereien aus einer Kirche. Danach fahren wir zu den alten venezianischen Zisternen am Dorfrand und essen schließlich in der Taverne >Gavalianos < direkt am Dorfplatz. Da gibt es keine gedruckte Speisekarte. Stattdessen kommt die junge Inhaberin mit einer großen Kreidetafel an den Tisch, auf der das umfangreiche Tagesangebot aufgelistet ist. So hat man auch gleich Beratung. Eine gute Idee! 

 

Am Sonntagmorgen steht dann die erst im 19. Jh. erbaute, für Besucher eigentlich gesperrte osmanische Burg von Kalami auf unserem Programm. Eine Bürgerinitiative konnte mühsam die Öffnung für einen Vormittag erwirken, um interessierten Bürgern klarmachen zu können, dass sie eigentlich ein wichtiges historisches Denkmal darstellt, das als Museum hergerichtet werden sollte: Hier saß schon Eleftherios Venizelos für ein paar Tage in einer Zelle, danach wurde sie bis zum Ende der Junta-Zeit (1974) als Gefängnis für politische Häftlinge genutzt. 1972 fand in dieser Festung zudem die letzte Hinrichtung auf griechischem Boden statt. „Hier litt das linke Griechenland“, stellt ein älterer Mann treffend in seiner Begrüßungsrede fest. Daran zu erinnern, scheinen offizielle Stellen nicht interessiert zu sein.

 

Antikythira – ja oder nein?

 

Am Montag geht es meiner Angetrauten so gut, dass wir auf einen frühzeitigen Heimflug verzichten. Der Mittwoch rückt näher, der einzige Tag in der Woche, an dem ein Tagesausflug vom westkretischen Hafenstädtchen Kissamos nach Antikythira möglich ist. Abfahrt von Kreta wäre um 8:15 Uhr, Rückfahrt von der Insel um 22 Uhr, wir hätten zwölf Stunden Aufenthalt. Zeit genug, um alle 43 Bewohner kennenzulernen, in der einzigen Taverne zu sitzen und eine kleine Wanderung zu unternehmen. Doch momentan stürmt es. Was tun, wenn wir zwar nach Antikythira gelangen, das Abendschiff dann aber wegen des Wetters nicht auf Antikythira anlegen kann? Wir müssten dann dort übernachten. Doch wie lange und wo? In den Social Media habe ich gesehen, dass sich gerade eine Internationale Gruppe von Hobby-Ornithologen zur Greifvogelzählung auf der Insel aufhält und die wenigen Gästebetten auf der Insel ausgebucht sind. Schweren Herzens entscheiden wir uns, für dieses Jahr auf Antikythira zu verzichten. Als ein deutscher Freund, der an der Südküste eine alternative Ferienanlage betreibt, über Facebook davon erfährt, bietet er mir sofort an, im Rahmen seiner Reise zurück nach Deutschland Ende November eine Haarlocke von mir dort zu deponieren – als Vorbote meines nun für den nächsten Sommer avisierten Kommens…

 

Weiter nach Plan

 

Statt auf meine Insel Nr. 87 zu fahren, lassen wir uns nun per Linienbus nach Iraklio bringen. Auch da gibt es immer wieder Neues zu entdecken. Am Morosini-Brunnen hat der Schattenspieler Giannis Liachkos aus Ioannina eine Mini-Bühne aufgebaut und spielt fast pausenlos, ohne sich ums Publikum zu kümmern. Kinder holt er aber schon manchmal hinter seinen „Bildschirm“ und lässt sie mitspielen. Die modernen Läden an der Dikeossinis- Dedalou-Straße bescheren uns eine neue Variante der Erkenntnis, dass man in Griechenland überall auf Spuren einer langen Geschichte stößt. Zwischen beiden Straßen verläuft nämlich von Häusern verborgen eine mittelalterliche Stadtmauer. Viele Läden haben inzwischen große Fenster eingebaut, durch die man auf sie schauen kann. So werden sogar Modeketten wie >Zara< und >Massimo Dutti< zu Museen. In der Dachgartenbar unseres Hotels treffen wir einen jungen Imker, von dessen Bienen sich durch das Bienengift Linderung verschiedenster Beschwerden erhoffende Kreter und Kreterinnen regelmäßig gegen Gebühr stechen lassen. 

 

Wir haben dafür weder Muße noch Mut, fliegen lieber über Athen nach Rhodos weiter und loben wieder einmal den Athener Flughafen als Airport der kurzen Wege. Auf Rhodos recherchieren wir noch einen langen Tag lang die Spuren der diesjährigen Waldbrände für die Griechenland Zeitung – und dann sitzen wir im Hof unserer kleinen Altstadtpension Cava d’Oro direkt an der Stadtmauer und stellen uns eine abschließende Frage: War die Reise nun ein Misserfolg, da ich mein Ziel nicht erreichte und mir noch immer eine Insel fehlt?

 

Persönliches Fazit

 

Nein, denn ich bin mit dem griechischen Dichter Konstantinos Kavafis einer Meinung. Ersetze einfach sein Ithaka durch mein Antikythira. Für ihn ist die Insel nur das austauschbare Pseudonym für das Ziel jeder Lebensreise: Ein Ort, an dem man nach langem Unterwegssein seinen Seelenfrieden findet. Viel wichtiger aber ist es, auf dem Weg dorthin Spannendes und Schönes zu erleben. Er fordert dazu auf, die vielen Stationen der Reise voll auszukosten, üppig einzukaufen und vor allem von Weisen unterwegs zu lernen. Wo man am Ende landet, ist eigentlich ganz egal. Eingekauft haben wir außer in Apotheken kaum – aber etliche Griechen erstmals oder wieder einmal getroffen. Und die besitzen ja fast alle irgendwie viel originelle Lebensweisheit.

  

 

 

INFO

 

Fähre von Korfu zu den anderen Ionischen Inseln: www.lefkadapalace.com

Mini-Cruise „Vergessene Inseln“: www.lefkadacruises.com

 

Busticket Preveza – Thessaloniki: 36 €

Busticket Thessaloniki – Kavala: 15 €

Hotels in Kavala:  airotel.gr, imaret.gr

Fähren von Kavala nach Agios Efstratios: Außer großen Autofähren gibt es auch die kleine lokale Föhre >Aeolis<, die die Insel ganzjährig täglich mit Limnos verbindet, Fahrzeit ca. 2:20 Stunden 

Infos über Agios Efstratios: www.agios-efstratios.gov.gr

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Kommentare: 1
  • #1

    Wellenreiterin (Dienstag, 26 März 2024 21:18)

    Lefkada: "Auch die meisten Häuser sind noch mit farbig gestrichenen Holz- oder Wellblechfassaden verkleidet, die das beim Erdbeben brüchig gewordene Mauerwerk verdecken". Nein, diese Holz- und Wellblechverkleidungen sind Bestandteil einer traditionellen, von sich aus erdbebensicheren Bauweise auf der Insel Lefkada. (Statt in Stahlbetonskelettbauweise wie überall sonst in GR.) Die Erdgeschosse sind in Massivbauweise, die Obergeschosse in Leichtbauweise als Holzkelettkonstruktion aus besonders elastischem Inselholz, und in den Untergeschossen verankert, um die starken Horizontalkräfte bei einem Erdbeben besser abpuffern zu können. Und die Obgergeschosse sind eben verkleidet mit den bunt angestrichenen Holz- oder Wellblechpanelen. So bleibt alles intakt! Sagt die Architektin, στο καλό!